Inverness begrüßte mich am außerhalb der Stadt gelegenen Flughafen bereits beim Verlassen des Flugzeugs mit einem wolkenfreien Himmel. Der Fluss Ness und der blaue Himmel strahlten förmlich um die Wette. Ein charakterfestes Hoch sorgte während meiner gesamten Urlaubswoche für Sonnenschein. Der Wettergott im Schottenrock – zu dieser Jahreszeit eine eher ungewöhnliche Vorstellung! Nur wenige Reisende verirrten sich mit mir in den hohen Norden Schottlands. Ich kann jedem empfehlen, die Stadt und Umgebung auch außerhalb der üblichen Reisezeiten zu besuchen.
Der Fluss Ness schneidet die Stadt Inverness in zwei Teile
Inverness zählt zu den schnell wachsenden Städten Schottlands. Das berühmte Loch Ness mit seinem scheuen Monster liegt nur einen Steinwurf entfernt. Der Fluss Ness schneidet Inverness in zwei Teile, bevor er in den Moray Firth mündet. Auf dem Gebiet des heutigen Inverness stand einst eine der Hauptburgen der Pikten (die „Bemalten“). Im repräsentativen Castle regierte im 11. Jahrhundert der durch William Shakespeare berühmt gewordene König Macbeth, allerdings nicht annähernd so grausam, wie in dem gleichnamigen Drama beschrieben. Unweit von Inverness fand am 16. April 1746 im Culloden Moor die letzte Schlacht im Vereinigten Königreich statt. Die rebellierenden Jakobiten unter der Führung von Prinz Charles Edward Stuart, genannt Bonnie Prince Charlie, wurden in weniger als einer Stunde von britischen Regierungstruppen vernichtend geschlagen. Zu Ehren von Flora MacDonald, der Fluchthelferin von Bonnie Prince Charlie, wurde vor dem Castle eine Statue errichtet. Besonders faszinierte mich dieses Mal ein Friedhofshügel mit dem gälischen Namen Tomnahurich, etwa 1,5 Kilometer südöstlich des Stadtzentrums gelegen. Der bewaldete Hügel liegt an einer wichtigen Zufahrtsstraße nach Inverness und hat über die Jahrhunderte hinweg seine eigene Aura entwickelt.
Der Hügel sieht aus wie ein umgekehrtes Boot, dessen Kiel oben liegt
Vom heutigen Stadtzentrum sind es rund 30 Gehminuten zum Fuß des Hügels. Der Friedhof stammt aus dem Jahr 1864, sein heutiges Aussehen hat er seit etwa 1950. Einige Darstellungen übersetzen das schottisch-gälische Wort Tomnahurich in „hill of the yew wood“ (Hügel der Eibenbäume), andere etwas freier in „hill of the fairys“ (Hügel der Feen). Sein Plateau ermöglicht eine gute Sicht auf die Stadt, den Fluss Ness, den kaledonischen Kanal und die Bucht des Moray Firth.
Das markante Wahrzeichen der Stadt ist ein sogenannter Esker, eine geologische Besonderheit, entstanden aus Ablagerungen von Sedimenten der letzten Eiszeit. Es handelt sich dabei um einen rund 70 Meter hohen, gletscherförmigen Kamm, etwa 500 Meter lang und 53 Meter breit. Der Hügel sieht aus wie ein umgekehrtes Boot, dessen Kiel oben liegt. Er bildet einen auffälligen topographischen Orientierungspunkt, dicht bewaldet mit einheimischen und exotischen Bäumen. Zedern, Ahornbäume, Eichen, Birken, Buchen und viele Eiben prägen das Bild. Terrassenförmige Wege mit Grabfeldern sind förmlich in ihn hineingeschnitten. Verschlungene Wege führen hinauf zum modellierten Hügelplateau. Ich bin mir sicher: Viele der hier versammelten alten Grabsteine hätten auch ihre eigene spannende Geschichte zu erzählen.
Der Boden um den Hügel war seit jeher von so schlechter Beschaffenheit, dass dieser nicht landwirtschaftlich genutzt werden konnte. Doch bevor die Fläche ebenfalls als Friedhof erschlossen wurde, diente sie jährlich am 24. und 25. Mai als „natürliche“ Pferderennbahn. Tomnahurich Hill ist in Inverness auch als Feenhügel bekannt.
Inverness: Der Feenhügel Tomnahurich Hill ist die Heimat keltischer Geisterwesen
Feen, auf Gälisch Daoine shi, zählen zu den keltischen Geisterwesen. Ihre Geschichten sind in Schottland, Irland, Wales und in der Bretagne weit verbreitet und bilden ganz selbstverständlich einen festen Bestandteil der örtlichen Mythologie. Denken wir nur an das Fairy Glen (Feen-Tal) und die Fairy Pools (Feen-Becken) auf der Isle of Skye. In Schottland ist es oftmals schwierig, einen Trennstrich zwischen Erzählung und Mythologie zu ziehen.
Feen sind ein stolzes Volk, das in der sogenannten Anderswelt lebt. Diese soll unsichtbar und parallel zu unserer vertrauten Welt der Menschen existieren. Der Zugang ist Normalsterblichen, wie wir noch sehen werden, nur unter bestimmten Bedingungen möglich. In der gälischen Mythologie, insbesondere in den schottischen Highlands, hielt man noch lange am Glauben an das kleine Volk fest, während sie andernorts bereits ins Reich der Fiktion übersiedelt worden waren. Es herrschte die Annahme, Feen seien Engel, die sich rebellisch auflehnten und folglich aus dem Himmel verstoßen wurden. Nach ihrer Vertreibung wurden sie dazu verurteilt, fortan unter der Erde zu leben.
Inverness bildet den zentralen Knotenpunkt im Straßennetz der Highlands. Warum also nicht auch ein gut gewählter Standort für einen Feenhügel? – Derartige landschaftliche Erhebungen gelten in Schottland, insbesondere in den Highlands, seit jeher als potenzieller Feen-Sitz, -Wohnort oder -Versteck. Der Zeitunterschied zwischen der realen und der Welt der Feenvölker stellt ein wichtiges volkskundliches Motiv dar, das sich in vielen Erzählungen und Volksmärchen über die Anderswelt findet. Davon handelt das folgende Märchen:
Es war einmal: Der alte Mann und der Berg
Einst kamen in der Adventszeit zwei reisende Hochland-Geiger, Farquhar Grant und Thomas Cumming, nach Inverness, um dort als Straßenmusiker Geld zu verdienen. Frustriert von den kläglichen Tageseinnahmen und durchgefroren trafen sie auf einer einfachen Holzbrücke einen alten Mann, der ihnen anbot, auf einem Ball zu spielen, und ihnen dafür eine fürstliche Bezahlung versprach.
So folgten sie dem alten Mann, der unerwartet schnellen Schrittes den kürzesten Weg aus der Stadt wählte. Nach einer Meile strammen Schrittes standen sie wie aus heiterem Himmel vor dem bewaldeten Hügel in Inverness: Der Feenhügel Tomnahurich Hill. Auf halben Weg öffnete sich die Vegetation und gab ein kleines, unscheinbar wirkendes Plateau frei. Hier stampfte der alte Mann mit einem Fuß kräftig auf den Boden, worauf eine massive Tür als Eingang zu einer Höhle zum Vorschein kam. Mit einladender Geste bat er die beiden Geiger, einzutreten. Das gleißende Licht im Innern verwirrte sie. Doch nachdem ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, erkannten die Musiker staunend, dass sie mitten in einem Palast standen.
Ihnen präsentierte sich eine große Halle, mit Ornamenten reich verziert und edel eingerichtet. Die lange, feierlich geschmückte Tafel war mit allerlei Köstlichkeiten gedeckt, die anwesende Feiergesellschaft in feinsten Zwirn gekleidet. Eine seltsam anmutende Frau stellte sich den beiden Geigern als Feenkönigin Mab vor, die hier im Tomnahurich mit ihrem Elfenhofstaat residiere.
Der alte Mann deutete auf ihre Instrumente. Sie sollten spielen, bis er ihnen ein Signal gäbe, damit aufzuhören, und dann begann das große Tanzen. Die Stunden des ausgelassenen Feierns vergingen wie im Flug, und die Geiger verloren zunehmend das Zeitgefühl.
Als sich die ausschweifende Party ihrem Ende neigte, kam wie scheinbar aus dem Nichts der alte Mann auf sie zu. Er signalisierte den Geigern mit einer Handbewegung mit dem Musizieren aufzuhören, schüttelte ihre Hände und dankte ihnen für ihren als großartig empfundenen Auftritt. Dann bezahlte er sie fürstlich mit mehr Goldtalern, als sie jemals durch ihre Straßenmusik hätten einspielen können. Überglücklich verabschiedeten sich die beiden Geiger von dem alten Mann, der, so schnell wie er erschien, auch wieder verschwunden war und traten ins Freie.
Der Morgen war bereits angebrochen. Die Geiger stiegen den Tomnahurich hinab und traten den Rückweg an. Bald stellte sich bei ihnen jedoch ein erstes Gefühl von Unbehagen ein. Verwirrt und müde, aber berauscht vom vielen Geld in ihren Taschen, verließen die beiden Musiker die Stadt Inverness in Richtung Heimat. Dort hatte sich alles, was sie zu kennen glaubten, verändert. Eine Kirchenglocke läutete einladend. Wenigstens sie klang ihnen vertraut.
Vor der Kirche trafen sie auf einen hoch betagten Greis, der sie mit einem neugierig musternden Blick ansprach. Als er ihre Namen hörte, erwiderte er, dass ihm sein Urgroßvater als Kind eine weit verbreitete Geschichte von zwei spurlos verschwundenen Geigern erzählt hatte. Im Vorbeigehen am Friedhof, der den Weg zur Kirche säumte, machten Farquahar Grant und Thomas Cumming eine Entdeckung, die ihnen den blanken Schrecken in die Glieder fahren ließ: Auf moosbewachsenen und vergilbten Grabsteinen waren die Namen ihrer Frauen und Kinder eingemeißelt.
In der Kirche fing ein ihnen unbekannter Pfarrer vor einer ihnen fremden Gemeinde an, die Predigt zu halten. Der Geistliche schlug die Bibel auf und begann daraus vorzulesen – mit fatalen Folgen für unsere beiden Geiger. Denn in dem Moment, als der Pfarrer den Namen Gottes aussprach, zerfielen sie vor den Augen der ungläubig dreinschauenden Kirchengemeinde zu Staub, akustisch begleitet von einem im Kirchenschiff deutlich vernehmbaren „Puff“. Die beiden Geiger hatten nicht etwa nur eine einzige Nacht im Hügel bei den Feen verbracht und für sie musiziert. Sie waren geschlagene einhundert Jahre im Tomnahurich gewesen.
Weitere Erzählungen von René Niklaus sind erschienen in: Schottische Geschichten. Eine literarische Rundreise durch Schottland anhand von 29 Schilderungen. 226 Seiten, ISBN: 978-3-95503-256-2, Mana-Verlag, Preis: 22 €